Mitwirkende im Denkkreis "Lebens-Mittel"
Dr. Ulrike Eberle, corsus - Corporate Sustainability, Hamburg
"Obwohl das Interesse an gesunder Ernährung groß ist, Wellness- und Fitnessangebote boomen oder Kochshows im Fernsehen, die eine 'neue Lust am Essen' vermitteln, immer populärer werden, nehmen Kompetenzen rund um Ernährung in Deutschland insgesamt ab. Eine Mahlzeit aus frischen Zutaten zubereiten zu können, ist heute zum Beispiel keine Selbstverständlichkeit mehr. Und angesichts der immer stärkeren Flexibilisierung der Arbeitswelt, des zunehmenden Überangebots, sich ständig ändernder Ernähungstipps und eines immer komplexer werdenden Ernährungsalltags wächst der Wunsch nach Entlastung und Vereinfachung."
Eberle, Ulrike/Hayn, Doris (2007), Ernährungswende. Eine Herausforderung für Politik, Unternehmen und Gesellschaft, herausgegeben von Öko-Institut e.V. und Institut für sozial-ökologische Forschung, Hamburg/Freiburg.
Quelle: www.ernaehrungswende.de/
PD Dr. Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universitätsmedizin Göttingen:
„In jeder Esskultur findet beginnend mit der Geburt ein lebenslanges Training auf bevorzugte Lebensmittel und Speisen statt, das wesentlich über Lernprozesse und gewohnheitsbildende Erfahrungen gesteuert wird. Individuell unterschiedlich prägen sich Vorlieben und Abneigungen, die in der familiären und sozialen Kommunikation entstehen, wobei rationale, vernünftige Gebote und Verbote eher das Gegenteil bewirken. Erziehungsberechtigte können Vorlieben bei Kindern besonders gut erzeugen, wenn sie mit viel klugen Worten bestimmte Lebensmittel verbieten, oder Aversionen anlegen, wenn sie mit Gesundheitsargumenten den Verzehr bestimmter Speisen einfordern. Cola-Getränke auf der einen und Spinat auf der anderen Seite sind klassische Beispiele dafür. Ungünstige Kontingenzverhältnisse limitieren die kognitive Ernährungserziehung erheblich. Am erfolgversprechendsten hingegen ist das Lernen vom positiv besetzten Vorbild über das zentrale Motiv Genuss und Geschmack."
Ellrott, Thomas (2009), in Kersting M (Hrsg.): Kinderernährung Aktuell - Schwerpunkte für Gesundheitsförderung und Prävention. Umschau-Zeitschriftenverlag (ISBN: 978-3-930007-23-3) S. 65-77
Otto Geisel, Deutsche Akademie für Kulinaristik, Weinsachverständiger und Autor, Bad Mergentheim
"Eine skurrile Debatte, die aus der Klimadebatte herüber schwappt, betrifft die Klimagas-Bilanz beim Fleisch, namentlich beim Rindfleisch. Müssen wir nun alle Vegetarier werden? Mitnichten, denn ein Blick zurück, darauf, wie unsere Altvorderen mit dem Fleisch umgingen, hilft auch hier weiter. Wir müssen wieder lernen, alles vom Tier zu nutzen. Es gibt die ersten Fleisch-Kooperativen, die dem Handel und der Gastronomie nur komplette Rinder- oder Schweinhälften verkaufen und nicht nur Filets und Steaks. So wird autonome regionale Versorgung möglich. Fangen wir beim Huhn an, kaufen wir es wieder im Ganzen und lernen mit seinen Teilen umzugehen. Jetzt haben wir die abstruse Situation, dass die Hähnchenbrust in unseren Supermarktregalen landet und die übrigen Teile billig nach Afrika verkauft werden und damit das zarte Pflänzlein einer autonomen Versorgung zertreten wird. Machen wir den Umgang mit allen Teilen des Tiers wieder zum Pflichtprogramm der Köche-Ausbildung aber auch der praktischen Ernährungskunde in den Schulen. Darunter verstehe ich keinen theoretischen Unterricht über Kalorienzählerei sondern Wissens- und Praxisvermittlung am Produkt."
Geisel, Otto (2009), Ausarbeitung für den Denkkreis "Lebens-Mittel" des Denkwerks Zukunft.
Prof. Dr. Franz Theo Gottwald, Vorstand der Schweisfurth-Stiftung, München
"Die Ökologie der kurzen Wege steht für die Ausrichtung auf eine multifunktionale Land- und Lebensmittelwirtschaft bei der auch neue transmateriale, mittlere und regenerative Technologien zum Einsatz kommen, wie sie bereits in den siebziger Jahren von dem deutsch-britischen Ökonom Ernst Friedrich Schumacher (Small is Beautiful: (A Study of) Economics as if People Mattered, 1973) beschrieben wurden. Durch multifunktionales Wirtschaften in den Bereichen Energieerzeugung, Naherholung, Bildung, Kulturlandschaftspflege und Entsorgungswirtschaft würde die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb und zwischen den Regionen sichergestellt. Eine regionale Netzwerkökonomie könnte ferner neue Arbeitsplätze schaffen, zum Erhalt von Berufsfeldern und Ausbildungsplätzen beitragen und die Entwicklung ländlicher Räume stärken. Die Verantwortung für die Sicherheit von Lebensmitteln und auch für eine hinreichende Produktion für alle Menschen sowie für eine gerechte Verteilung würde durch die räumliche Nähe bei einer Ökologie der kurzen Wege ebenfalls gestärkt."
Gottwald, Franz Theo (2009), Szenario einer zukunftsfähigen Ernährung: Die Ökologie der kurzen Wege, Ausarbeitung für den Denkkreis "Lebens-Mittel" des Denkwerks Zukunft.
Dr. Klaus Hahlbrock, em. Professor für Biochemie am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung, Köln
"Die nachhaltige Sicherung der menschlichen Ernährung verlangt eine drastische Wende im Umgang mit den natürlichen Ressourcen sowie die Beseitigung von Hunger und Armut als Hauptursache des andauernden Bevölkerungswachstums. [...] Alle anstehenden Maßnahmen erfordern durchgreifende und wirksame politische Entscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene. Voraussetzungen sind ein verbesserter allgemeiner Wissensstand und eine vorurteilsfreie Sachinformation über die globalen ökologischen und ökonomischen Folgen von Artenverlust und Klimaerwärmung sowie deren Zusammenhänge mit Nahrungsproduktion, Ressourcennutzung und Bevölkerungswachstum. [...] Übergeordnetes Ziel ist der Ersatz von quantitativem Wachstum und Übernutzung der natürlichen Ressourcen durch qualitativen Fortschritt in allen Lebensbereichen."
Hahlbrock, Klaus (2007), Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren?, Fischer Verlag, Frankfurt.
Prof. Dr. Alois Heißenhuber, Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Landbaus, Technische Universität München, Freising-Weihenstephan.
"Es stellt sich weiterhin die Frage, ob eine nahezu ausschließliche Bewertung des Wohlstandes in monetären Größen den ureigensten persönlichen Vorstellungen entspricht. Wie die Ergebnisse der Zufriedenheitsforschung zeigen, ist das Einkommen zwar eine wichtige Kenngröße für die Zufriedenheit, aber bei weitem nicht die alleinige Maßzahl. Aus diesem Grunde ist es längst überfällig, diesbezüglich eine umfassendere Beurteilung vorzunehmen. Neben dem Lebensstil stellt auch die Arbeitswelt einen wichtigen Einflussfaktor für die persönliche Situation dar. Da neben dem Geldverdienen noch andere Arbeiten, wie die sog. Subsistenzarbeit für das Zusammenleben von größter Bedeutung sind, bleibt die Notwendigkeit der Förderung dieser Arbeitsfelder von größter Dringlichkeit. Insgesamt gesehen erfordern die globalen Herausforderungen wie Klimawandel und Ernährung der Menschheit eine neue Balance zwischen Markt und Gemeinwohl. Das betrifft die Wirtschaft im Allgemeinen und die Bodennutzung als Grundlage unserer Ernährung im Besonderen."
Heißenhuber, Alois (2009), Bodennutzung zwischen Markt und Gemeinwohl - nachhaltige Landnutzung und zukunftsfähiger Lebensstil, in: Menschenrechte und ihre Grundlagen im 21. Jahrhundert - Auf dem Wege zu Kants Weltbürgerrecht, Beiträge anlässlich der Verleihung des Kant-Weltbürger-Preises 2009, Hrsg. Lange, Berthold, Ergon Verlag, Würzburg.
Dr. Gunther Hirschfelder, Privatdozent für Volkskunde und Kulturanthropologie an der Universität Bonn
"Die ökonomischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts mit den drei großen Achillesfersen: Bodenerosion, Wasserknappheit, Energiemangel werden dazu führen, dass wir unsere Ernährung und unser Ernährungsverhalten zwangsläufig überdenken müssen. In den Industrieländern wird im Verlauf des 21. Jahrhunderts der materielle Wohlstand stark sinken. Wir werden lernen müssen, mit Knappheit zu leben, Fleisch wird teurer, ebenso wie die meisten Nahrungsmittel. Brot, Getreide und Biotreibstoff werden miteinander konkurrieren. Für das kommende Jahrhundert sehe ich nur Chancen, wenn wir den Anteil von biologischen Anbaumethoden drastisch erhöhen."
im NZZ-Folio, Interview mit Gudrun Sachse, 12/2009.
Dr. Anke Möser, Zentrum für internationale Entwicklungs- und Umweltforschung (ZEU), Universität Gießen
"... Ernährung [wird] zukünftig weiterhin sowohl zu Hause [...] und außer Haus [...] verortet [sein]. Beiden Verzehrsorten ist gemeinsam, dass eine noch stärker zunehmende Polarisierung der Verzehrsereignisse stattfindet, die durch Arbeitszeitrhythmen oder den demographischen Wandel der Gesellschaft manifestiert wird: einer geselligen Mahlzeit im Kreise von Familien-/Haushaltsmitgliedern bzw. von Arbeitskollegen/Freunden [...] stehen weitere Gelegenheiten der Nahrungsaufnahme gegenüber [...], die nur dem Bedürfnis der physiologischen Versorgung des Körpers entsprechen. Zielsetzung muss es sein, die Hauptmahlzeit als feste Institution zu stärken, während für die weitere Nahrungsaufnahme möglichst gesunde Verzehrsangebote bereitgestellt werden (z.B. ready-to-eat Salate in den Kühltheken)."
Möser, Anke (2009), Szenario einer zukunftsfähigen Ernährung, Ausarbeitung für den Denkkreis "Lebens-Mittel" des Denkwerks Zukunft.
Prof. Dr. Volker Pudel (†), Ernährungspsychologische Forschungsstelle der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Georg-August-Universität Göttingen
"Die Einkaufssituation für Lebensmittel hat sich radikal verändert. Noch in den 50er Jahren ging der Kunde in den Lebensmittelladen ('Tante Emma') und verlangte die Produkte, die er zuvor für die Verpflegung seiner Familie geplant hatte und war froh, wenn diese Produkte erhältlich waren. Kurz. Der Kunde bestimmte, was er einkaufen wollte. In der Folgezeit wurde der übersichtliche Lebensmittelladen durch größere Supermärkte abgelöst, die ein immer umfangreicheres Warenangebot offerierten. Parallel dazu eröffneten Discounter, die mit einem reduzierten, aber immer noch breitem Produktsortiment, vor allem preiswerte Lebensmittel anboten."
Pudel, Volker (2009), Entscheidungskonflikte durch Überangebot, Ausarbeitung für den Denkkreis "Lebens-Mittel" des Denkwerks Zukunft.
Mag. Hanni Rützler, futurefoodstudio, Wien
"Noch gibt es keine empirischen Anzeichen dafür, dass tatsächlich wieder signifikant mehr gekocht wird, aber das Bedürfnis danach steigt. Auch jenes, das gemeinsame Essen wieder mehr zu zelebrieren, zumindest bei Einladungen zum Abendessen nach Hause oder am Wochenende. Das gilt, wie neue Studien zeigen, vor allem für jüngere Menschen, die dem Essen mit Freunden wieder einen hohen Stellenwert einräumen. Nicht nur aus finanziellen Überlegungen. Selbst kochen befriedigt vor allem die Bedürfnisse nach Sinnlichkeit, nach Kreativität, nach Lebendigkeit, Verantwortlichkeit und Gemeinschaft. Für jemanden oder sogar gemeinsam zu kochen verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl, es vermittelt uns eine Ahnung davon, wie ein zumindest in Momenten geglücktes Leben zu führen wäre."
Rützler, Hanni (2010), Szenario 2020 - 10 Thesen zu den zukünftigen Ernährungsweisen und Esskulturen.
Quelle: www.denkwerkzukunft.de/index.php/aktivitaeten/index/Szenario%202020
Dr. Gesa Schönberger, Dr. Rainer Wild-Stiftung, Heidelberg
" Folgerichtig fällt es dem Verbraucher immer schwerer, sich im 'Dschungel Ernährung' zurechtzufinden. Zunehmende Selbstverantwortung für die eigene Versorgung, wachsende (persönliche und soziale) Ansprüche, ein unüberschaubares Angebot an Produkten sowie eine Flut an Informationen, Werbeaussagen und Gesundheitsversprechen führen beim Verbraucher zu Verunsicherung. [...] Um Orientierung zu geben, wäre eine umfassende Ernährungs- und Verbraucherbildung sinnvoll. Diese findet jedoch besonders in Schulen gar nicht oder nur sehr begrenzt - auf das Erwerbsleben ausgerichtet - statt. Die Vorbereitung auf das alltägliche, nicht erwerbstätige Leben mit Hilfe von Schlüsselqualifikationen und Alltagskompetenzen fehlt vielfach (zum Beispiel Kompetenzen im Umgang mit Zeit, Gesundheit, Körpergewicht, Emotionen usw.). Wenn es derartige Angebote gibt, sprechen diese eher Mädchen als Jungen an. Für junge Männer mehr noch als für junge Frauen ist deshalb die souveräne Bewältigung des alltäglichen Lebens eine große Herausforderung."
Schönberger, Gesa/Hartmann, Thomas (2009), Staatliche Verantwortung für gesunde Ernährung, Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens (Hrsg.), Mitteilungen Heft 17, Dezember 2009, S. 34-41.
Quelle: www.gesunde-ernaehrung.org/mediadb/Arbeitskreis/Mitteilungen/Heft_17-Bildschirm-PDF.pdf
Prof. Dr. Bernhard Tschofen, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen
"Die gegenwärtige Entwicklung der Weltwirtschaft und -gesellschaft lässt vermuten, dass die privaten Konsummöglichkeiten insgesamt stagnieren und die Gefahr einer weiteren Öffnung der 'sozialen Schere' besteht. Für die Entwicklung der Ernährungsweisen bedeutet dies in Verbindung mit den weltweiten demographischen und sozialen Dynamiken, dass die sich gegenwärtig abzeichnenden Veränderungen eine weitere Verstärkung erfahren werden. So wie der Agrar- und Lebensmittelmarkt fortschreitender 'Globalisierung' unterworfen sein wird, werden die vergleichsweise homogenen Ernährungsszenarios der westlichen Wohlstandsgesellschaften an Heterogenität gewinnen und von gleichzeitigen differenten Ernährungsweisen (Möglichkeiten und Werten) bestimmt sein. Dies wird voraussichtlich nicht nur die gesamtgesellschaftliche Dimension betreffen, sondern als gleichzeitige Praxis auch den Alltag einzelner Milieus erreichen: Konfektionierte Lebensmittel aus industrieller Produktion (Discount) und fragmentierte Mahlzeiten (Fast Food, Convenience) werden als unbefragte Selbstverständlichkeit neben einer reflektierten und beredten Lebens- und Ernährungsweise stehen (Bio, regional / nachhaltig)."
Tschofen, Bernhard (2009), Szenario Zukunftsfähige Ernährung, Ausarbeitung für den Denkkreis "Lebens-Mittel" des Denkwerks Zukunft.