Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Hélène Grimaud: Lebenselixier

Ein Gespräch mit der Pianistin und Umweltschützerin Hélène Grimaud

smallImage

©Mat Hennek  vergrößern

„Water“ hat eine beinahe psychedelische Wirkung - fasziniert Sie der Gedanke an Bewusstseinserweiterung?
Ja, unbedingt. Die Musikstücke in „Water“ (u.a. Liszt, Ravel, Debussy, Fauré und Berio, Anm. d. Red.) selbst brauchen keine Zusätze, sie stehen für sich. Es war aber auch nicht beabsichtigt, etwas „hinzuzufügen“. Ich kenne Nitin Sawhneys Musik seit über 15 Jahren, und ich wollte einen zeitgenössischen Komponisten um „Brücken“ zwischen den Stücken bitten, so dass die Menschen das Gefühl einer Reise haben. Ich möchte einen Weg zur bewussten Erweiterung des Erlebens öffnen, des Denkens, des Herzens. Transzendente Musik hat diese Kraft, wahrscheinlich mehr als jede andere Kunstform.

Was können wir von der Kunst lernen?
Ich glaube, es geht weniger ums Lernen als ums Fühlen. Sobald man fühlt, kann man etwas über sich selbst lernen. Gefühlte Schönheit kann erreichen, dass man sich lebendiger fühlt als vorher - z.B. weil ein Musikstück tiefe Freude bereitet hat: Ein Moment der Zartheit, in dem das Licht durchbricht. Es kann auch ein Moment tiefer Trauer sein, der einem zeigt, wie intensiv man Schmerz empfinden kann. Das erhöht zugleich die Fähigkeit den Schmerz anderer Menschen mitzuempfinden. Ich selbst erwarte von der Kunst, dass sie einen näher an das eigene Selbst bringt. Dazu muss man sich natürlich öffnen. Sich zu öffnen ist nicht einfach, aber unglaublich wichtig, denn man sollte nicht immer auf ein bestimmtes Ziel fixiert sein. Es ist sehr schön, freie Zeit zu haben, in der man Dinge einfach nur erforschen kann. Wenn man sich diese Zeit nicht nimmt, verengt man sich. In unserem sehr reglementierten Leben, in dem es hauptsächlich um Produktivität geht, gibt es leider wenig von dieser Zeit.

smallImage

©Mat Hennek  vergrößern

Was lehrt uns die Natur?
Wenn man von „lehren“ sprechen möchte, geht es um Respekt, Demut, um das Heilige in anderen Lebewesen, nicht nur im Menschen. Und es geht darum, in Harmonie mit der Umwelt zu leben. Das sind für mich die wichtigsten „Lehren“ der Natur, die im Alltag aber leider schwer umzusetzen sind. Es passiert so oft, dass man faul und selbstzufrieden die einfache Lösung wählt, statt nach einer nachhaltigen zu suchen. Wir leben im Konsumismus, aber wir sollten ihn bekämpfen. Viele denken, einer allein macht keinen Unterschied, aber das stimmt nicht. Man kann darauf achten, was man mit seinem Geld macht, wessen Produkte man kauft, für was diese Produkte stehen, wie sie produziert werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, selbst einen Unterschied zu machen.

Was die Tiere angeht - wir haben über Demut gesprochen: Wenn man mit Tieren umgehen möchte, muss man es zu ihren Bedingungen tun. Man kann nicht erwarten, dass sie einem auf halbem Weg entgegenkommen. Man kann nicht auf Autopilot schalten, was die meisten von uns aber zurzeit tun, denn nur so sind wir in der Lage, unser Pensum irgendwie zu bewältigen. Mit Tieren geht das nicht: Man bekommt zurück, was man gibt. Demut ist nichts Schlechtes, im Gegenteil - sie bedeutet, sich der Welt zu öffnen und anzunehmen, was da kommt. 

smallImage

©Mat Hennek  vergrößern

Welche Rolle sollten Natur und Kunst in Erziehung und Ausbildung spielen?
Das ist ein großes Thema. Meines Erachtens sollte das gesamte Bildungswesen neu gestaltet werden. Ich finde es erschreckend, dass man im Alter zwischen ungefähr 5 und 20 Jahren sehr viele Dinge lernt, die sehr wenig mit dem Leben zu tun haben. Musik und Kunst sind sehr wichtig. Es müsste auch eine Schulung für Gesellschaft, Menschenrechte, Gesundheit und Umwelt geben. Würden Musik und Kunst von Anfang an in die Lehrpläne aufgenommen werden, entwickelten junge Menschen einen Sinn für Staunen und Respekt, wozu es später oft zu spät ist.

Was sind die drängendsten Probleme unserer Zeit?
Für mich definitiv die Ökologie. Dann fehlender Respekt, ganz gleich, ob es um eine andere Religion, einen anderen Menschen, eine andere Wesensart oder sonst etwas geht. Als erstes aber müssen wir uns um den Planeten kümmern, auf dem wir alle leben. Dann kommen Erziehung und Ausbildung. Ohne sie kehren wir zurück ins Mittelalter - und bereiten den Weg für Despoten, Unterdrücker, Leute, die die Angst und die Schwächen anderer ausnutzen. 

smallImage

©Mat Hennek  vergrößern

Wie findet man zu Bewusstsein für sich selbst?
Ich persönlich mag die Ruhe, die Stille. Ich mag es, wenn ich im Augenblick lebe, wenn ich mich mit dem verbinden kann, was gerade passiert. Selbst in der Warteschlange im Supermarkt möchte ich mich mit dem verbinden, was ich gerade tue, die Leute ansehen, die ich vor mir habe, sie anlächeln. Das tun, was ansteht, so elegant und harmonisch wie ich es vermag.

Was verstehen Sie unter immateriellem Wohlstand?
Immaterieller Wohlstand kann Freude sein, Zärtlichkeit, die Schönheit um einen herum, die Schönheit in einem selbst. Es kann ein Lachen sein. Immaterieller Wohlstand ist das, was Harmonie schafft, in dir und mit den Menschen um dich herum.

www.helenegrimaud.com

www.nitinsawhney.com

(Nikolaus Wiesner - März 2016)

Zum Herunterladen

Langfassung Interview