Erfüllter leben


Übersicht Leuchttürme

Die Kunst (zu) leben

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Foto: Marco Ferri vergrößern

Vor rund einem halben Jahrtausend führte eine der mächtigsten Familien der Renaissance hier ihre Geschäfte, heute sind die weiten Gebäudeflügel der Florentiner Uffizien ein Ort, an dem sich viele der größten Kunstwerke der Welt von der Antike bis heute finden. Ein Ort, der zeigt, wie wichtig Kunst und Kultur für ein ausgefülltes Leben sind.

 

Eike Schmidt arbeitete vor seiner Berufung zum Direktor der Uffizien u.a. an der National Gallery in Washington und im Getty Museum in Los Angeles als Kurator sowie für das Auktionshaus Sotheby‘s in London. Als international renommierter Experte für Florentiner Kunst sieht er seine große Aufgabe darin, „den Menschen die Uffizien als ‚Erlebnisraum‘ zur Verfügung zu stellen“. Kunst als Erlebnis - ein Konzept, das sehr zeitgemäß erscheint. Was sollen Museen heute für die Menschen leisten? 

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© Dan Dennehy vergrößern

„Sie sollen die Menschen bereichern, das ist das Wichtigste. Wir haben alleine in den Uffizien rund 2 Millionen Besucher im Jahr. In den Sommermonaten sind die Leute oft schon erschöpft, wenn sie herkommen. Da reicht es im Rahmen einer Führung dann vielleicht für ein Selfie vor einem berühmten Kunstwerk, und schon geht‘s weiter. Das bringt den Menschen nichts. Wir möchten individualisierte Wege und Eingänge schaffen, damit ein Besucher beispielsweise auch nur die Bereiche ansehen kann, die ihn besonders interessieren - d.h. er soll selbst entscheiden können, was er anschauen möchte. Auch die Programme für Behinderte möchte ich ausbauen, Touren für Sehbehinderte zum Beispiel, genauso wie ein Programm für Alzheimer-Patienten: Die Kunst kann allen Menschen sehr viel bringen - aber nicht, wenn man in einer Masse durchgedrängt wird. Wir wollen die Möglichkeiten schaffen, einzelne Kunstwerke oder Gruppen von Kunstwerken wirklich zu „sehen“ und sich damit beschäftigen zu können - und den Besuch zu entschleunigen. Kunst ist vieldimensional. Sie hat nicht nur mit Kunstgeschichte zu tun, sondern auch mit Philosophie, mit Religion, mit Theologie - und immer mit Gefühl und Emotion. Für alle diese Ebenen möchte ich Zugänge schaffen.“

Dabei, sagt Eike Schmidt, sollen auch neueste technische Möglichkeiten genutzt werden: „Wir arbeiten an neuen Präsentationskonzepten, z.B. indem wir das Smartphone in den Museumsbesuch einbinden. Wenn man Apps schafft, die das Kunstwerk nutzen und interpretieren, die interaktiv sind und dem Besucher Fragen stellen, die er wieder mit anderen, mit denen er ins Museum kommt, erörtern kann, dann eröffnen diese Apps einen Zugang zum Kunstwerk. Sie regen den Besucher an. Man kann damit Informationen bieten und den sozialen Kontakt mit anderen Museumsbesuchern fördern. Das alles geht aber natürlich nicht von heute auf morgen. Natürlich haben nicht wenige Menschen lieber etwas Gedrucktes in der Hand. Deswegen wollen wir unsere Museumsführer genauso ausbauen wie die Smartphone-Apps - auch dadurch, dass der Führer in möglichst vielen Sprachen zur Verfügung steht. Gleichzeitig gilt es, niemandem etwas aufzuzwingen - denn viele Leute gehen noch immer am liebsten nur mit einem Notizblock oder Skizzenheft ins Museum“.

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©Chris Wee vergrößern

Giotto, Botticelli, Michelangelo, Raffael, antike Statuen - was kann die Kunst der Vergangenheit den Menschen heute vermitteln? „Die großen Meisterwerke der Vergangenheit haben eine so starke Aussage und emotionale Kraft, dass ein kurzer Blick genauso wie ein längeres Betrachten stets etwas mitgibt. Es fängt natürlich immer auf der Gefühlsebene an - unser berühmtestes Werk hier in den Uffizien, Botticellis „Geburt der Venus“, hat zum Beispiel einen enorm beruhigenden Charakter: Die Auswahl der Farben, die Komposition, der Wind als Sinnbild für den Geist, der von der Schönheit inspiriert wird, und die Idee, einen ideal proportionierten Menschen hinzustellen.“

Aber wie steht es in einer von Effizienzdenken dominierten Zeit um die Fähigkeit, sich noch auf ein tiefes Erleben einzulassen? „Ich glaube, das ist individuell verschieden. Man sollte die Menschen einladen, sich auf ein Erleben einzulassen, das innerlich bereichert - aber, um das alte Sprichwort zu benutzen: ‚Man kann das Pferd zur Tränke führen, trinken muss es selber‘. Kunst kann ein Leben verändern. Wenn man sie allerdings nur als ein x-beliebiges Konsumgut ansieht und anschließend einkaufen geht, hat man nur einen sehr oberflächlichen Zugang zu Erlebnissen, die viel reicher sind. Ich halte es für äußerst wichtig, den Menschen die Wahrnehmung der gesamten Tiefe der Kunst zu ermöglichen. Ich wünsche mir, dass die Besucher etwas entdecken, das sie nie zuvor gesehen haben. Etwas, das ihnen dann sehr wichtig wird. Das passiert auch mir noch regelmäßig. Und ich beobachte täglich, dass jemand im Museum plötzlich vor einem Bild stehen bleibt, näher herangeht und schaut und schaut. Dann weißman, dieses Bild hat einen Menschen gefangen. Da wird eine Beziehung aufgebaut, da entwickelt sich etwas im Inneren dieses Menschen. Museen können eine sehr starke politische Funktion haben, wenn es darum geht, dem Menschen ein Bewusstsein für sich selbst, seine Fähigkeiten und seinen Platz in der Welt zu vermitteln, im Sinne eines 'empowerment of the individual'“.

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Foto: Marco Ferri vergrößern

Das Museum ist also ein Ort, der den Begriff des immateriellen Wohlstands sehr gut fassbar macht? „Immaterieller Wohlstand ist ein Wohlstand, der nicht irgendwo jemandem etwas wegnimmt, sondern ausschließlich etwas hinzugibt. Das ist der Unterschied zum materiellen Wohlstand. Der nimmt immer dann, wenn er entsteht, woanders etwas weg. In Italien wird oft davon gesprochen, dass die Kunst „das Erdöl Italiens“ sei. Das ist meines Erachtens eine schiefe Metapher, denn Erdöl ist eine Energie, die endlich ist, sich aufbraucht und zudem Abgase produziert. Eigentlich müsste man sagen, die Kunst ist „die Sonnenenergie Italiens“, die sich nicht erschöpft, die ökologisch ist und die noch Weiteres aufbaut. Das ist auch der Vorteil eines immateriellen Wohlstands.“

Natürlich kann man die Uffizien, die so viele große Renaissancekunstwerke wie kaum ein anderes Museum der Welt versammeln, auch virtuell besuchen: Das Internet bietet bekanntlich viele neue Möglichkeiten der Wissens- und Informationsvermittlung, ähnlich wie einst die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg. Leben wir in einer Art ‚Zweiter Renaissance‘? Eike Schmidt überlegt kurz: „Wenn es eine „Zweite Renaissance“ ist, wäre das wunderbar. Allein schon, wenn wir daran denken, was in der Renaissance künstlerisch und geistig geleistet wurde, welche Grundsteine gelegt wurden, auch für die Aufklärung. Zum Beispiel die Idee, dass Information und Wissen für alle frei verfügbar sein sollten. Es wäre zu hoffen, dass unsere Zeit eine ‚Neue Renaissance‘ ist. Auf alle Fälle befinden wir uns in einer Epoche gewaltiger Umbrüche, und wir müssen ein Gleichgewicht finden“. Die großen Kunstmuseen der Welt können viel für ein solches Gleichgewicht tun, für ein bewussteres Leben und Erleben. Auch wenn man sie „nur“ virtuell besucht. 

Uffizien

National Gallery

Louvre

Museo del Prado

Hermitage Museum

Pinakothek

Staatliche Museen Berlin

(Nikolaus Wiesner, Januar 2016)